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Vykintas Baltakas ist ein musikalischer Scheherazade. Seine Musik ist spannend, zieht in ihren Bann, verzweigt und erfindet sich dann neu oder kehrt zuweilen dahin zurück, wo es begann. Er webt musikalische Geschichten, die durch ein feines Netz in sich verknüpft sind. Die Erzählung beginnt 1972 in Vilnius, Litauen, wo Baltakas geboren wurde. 1993 übersiedelte er nach Karlsruhe, Deutschland, um Komposition bei Wolfgang Rihm und Dirigieren bei Andreas Weiss zu studieren. Von 1994 bis 1997 arbeitete er außerdem mit Peter Eötvös an der Musikakademie Karlsruhe und am Internationalen Peter Eötvös Institut. Auch als Dirigent erfolgreich, leitete Baltakas Orchester wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin, das Ensemble Modern und das Klangforum Wien.

Sein Umzug nach Deutschland war gleichzeitig eine Rebellion und ein Ausbruch aus seinem litauischen Erbe. In vielen osteuropäischen Ländern sind Volkskunst und Volkskultur mit der Musik und der Ästhetik eines Komponisten oft eng verflochten. Für ihn mangelte es der litauischen Musik an Dreistigkeit, an Herausforderung. Das Ergebnis war ein physischer und ästhetischer Aufbruch zusammen mit einer Mischung aus einer modernistisch- harmonischen Sprache, anspruchsvoller Virtuosität und einer gesunden Dosis Dreistigkeit. Seine neue Geschichte setzte sich mit Pasaka (litauisch für „Märchen“) fort, in welcher der Pianist spielt und gleichzeitig den indischen Schöpfungsmythos der Erde erzählt. Es ist eine ernste Geschichte, die er voll Absurdität und Ironie gestaltete. Die Uraufführung 1996 bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt wurde mit einem Preis bedacht.

Er fasst das Komponieren von Musik und das Dirigieren im Sinn einer Wechselwirkung auf und sagt, man könne sowohl als Dirigent wie auch als Komponist Musik „beeinflussen, Ideen vermitteln, richtungsweisend sein, Entscheidungen treffen. Man gibt Impulse, aber man erhält von der Musik auch Impulse zurück, die man dann neu verarbeitet und die wieder zurückschwingen“.

Diese Wechselseitigkeit der Beziehungen ist bezeichnend für seine Arbeit. Im Jahr 2004 begann er diese genealogische Expansion mit einem Werkzyklus. Als erstes kam Ouroboros für Ensemble. Ein klangliches Bild daraus – die Fermate aus Takt 313 – wurde zum Keim für das darauf folgende: (co)ro(na), ein heiteres Scherzo für kleines Ensemble. Der Titel ist vielleicht irreführend, denn man könnte daraus auf eine Fermate (oder corona) im Sinn einer Pause schließen. Fermaten sind jedoch auf vielschichtige Art energiegeladen, fast so, als ob man weit entfernt Kolibris in der Luft sieht – sie wirken fast bewegungslos, aber die Energie und die tatsächliche Bewegung unter der kühlen Oberfläche sind gewaltig. Das trifft auch auf (co)ro(na) zu, wo das dynamische Beben die Musik elegant schweben lässt. Diese wechselseitige Befruchtung ist nicht nur zwischen Werken, sondern auch bei der Komposition neuer Stücke zu erkennen, indem Neuinterpretationen sukzessiv aufeinander folgende Phasen einer Arbeit kreieren. Ein Beispiel dafür ist das Streichquartett b(ell tree), geschrieben für das Arditti Quartet. Das Werk ging von einem elektronischen Stück mit Kuhglocken als Klangobjekt aus. Die digitalen Töne wurden dann für Streichquartett neu übersetzt.

Komponisten befassen sich stets auch mit Psychoakustik und dem Ansatz, die Wahrnehmung von Zeit zu verändern. Baltakas geht davon aus, dass man Zeitlichkeit nicht aufheben, jedoch die Linearität von Zeit aufbrechen kann. Auch dazu gibt es eine Geschichte: Diesmal verweist Baltakas auf den Einfluss von Gogols Viy, der Geschichte des Versuchs eines jungen Mannes, einer Hexe zu entfliehen, der dabei aber immer wieder zu ihr zurückgebracht wird. Die Vorstellung, tatsächlich nirgendwo hinzukommen, wird zum Ansatz, Linearität aufzubrechen. Das ist die Prämisse von Stravinskys Mosaikform und Stockhausens Momentform ebenso wie der Ausgangspunkt von Baltakas’ Auftragsarbeit für das WDR Radio Köln während seiner Zeit in Paris und am IRCAM. Das daraus entstandene Stück ist Poussla, für Orchester und Ensemble, in dem die Musik zu den parallel ablaufenden Mechanismen einer Uhr wird: Orchester und Ensemble jeweils als größere und kleinere Werke – mit Zahnrädern, die sich auf der Stelle vor und zurück bewegen.

Seine Beschäftigung mit Zeit umfasst auch die Prolongation. In seinem Werk Cantio, ein Musiktheater für die Biennale München 2004, arbeitet Baltakas mit Schichten und Verschränkungen, um Erzählung und Musik auszudehnen. Ähnlich wie Scheherazade, die ihre Geschichten webt, singt die Hauptdarstellerin ein infinites Lied in dem Versuch, die Abreise der Götter aufzuhalten. Das Lied wird immer länger und länger, bis sie bemerkt, dass die Götter für immer weggehen und ihr Lied endlos wird.